IMG 20190913 WA0002Ludwigs Verwandlung

von
Ralph Roger Glöckler


Ludwig, ein Junge aus dem Norden, hatte es immer an die Grenzen des Kontinents gezogen. Dort, dachte er, müsste dieses angsterfüllte Leben ein Ende haben, weil die Erde aufhörte und das Meer begann. Er betrachtete die Fotografien in seinem Erdkundebuch vor dem Zubettgehen, und wenn er das Licht ausschaltete, nahm er die Felsenküste mit in die Nacht hinein. Dann sah er sich am westlichsten Punkt Europas stehen, windumhüllt, blickte über die kargen Hügel der Kap-Landschaft, betrachtete das Meer und ließ sich von den Wogen forttragen. Dort, am Ende des Kontinents und des Meeres Anbeginn, so träumte er, würde er die Angst vor dem Vater verlieren, ja, alle seine Ängste würden im Wind verwehen, alles wäre viel leichter für ihn. Da wurden schlechte Zensuren plötzlich vom Geröll zermalmt, das die Brandung aus der Küste biss, und er war gar nicht mehr so dumm, wie der strenge Mann immer behauptete, er konnte in der Schule nicht aufpassen, weil die Streitereien der Eltern unaufhörlich durch seine Gedanken geisterten, und er immer daran denken musste, wie hässlich es zuhause war.
Hier oben, auf dem Kap seiner Träume, zerbrach er sich nicht mehr den Kopf darüber, womit er den Vater wohl besänftigen könnte, diesen großen, aufgebrachten Mann, zu dem er doch gerne aufgesehen hätte, wie zu einer Säule des Himmels ... Aber beim Erwachen fraß sich die Angst wieder in ihn hinein und er ging ganz langsam zur Schule, vor sich auf den Boden starrend, der auch im Sommer voll welker Blätter lag, so dass er zu spät kam, nicht nur dumm war, sondern auch noch faul.
Eines Tages, er war schon ein junger Mann, der in einem Geschäft mitten in der Stadt arbeitete, trat er in einer ruhigen Minute ans Fenster und blickte auf den belebten Platz hinaus. Straßenbahnen fuhren vorüber, Autos, viele Autos, mit vielen fremden Menschen! Er aber war es müde, immer nur Sehnsucht zu fühlen und sich auszumalen, wie es wohl wäre, frei, stark, ja, ein ganzer Kerl zu sein. Die Felsenküste, das Kap seiner Träume! Dort hatte sich die Verzagtheit im Wind aufgelöst, war von Steinen zertrümmert und vom Meer verschluckt worden.
Wenn er nun dorthin führe, heute noch, gleich, sofort, sich in den nächsten Zug setzte, ohne Geld, ohne Koffer, ins Flugzeug, in sämtliche Autos der Welt, um diese Angst hinter sich zu lassen, die ins Feuer seiner Sehnsucht blies, wilde Hengste daraus entfachte, die mit feuersprühenden Hufen durch seine Seele galoppierten, ja, warum, warum hatte er diese Sehnsucht, die kein anderer teilte, und wenn, wie er vorhin gedacht hatte, immer nur die Schlechten? Wenn er also dorthin führe, was dann?
Ludwig dachte nicht länger darüber nach. Eine geheimnisvolle Stimme lockte ihn aus dem Geschäft hinaus, das wütende Gebrüll des Filialleiters, an dem er grußlos vorbeigegangen und auf die Straße hinaus getreten war, löste sich hinter ihm in der Luft auf wie der Zugvögel eiliger Kot, lockte ihn zum Bahnhof hinüber, an alle Gleise, von denen die Fernreisezüge abfuhren, um schnell und immer schneller die leuchtende Reihe ihrer Fenster durch die Ebenen zu ziehen und abzuheben, Flugzeuge, strahlende Kometen.
Ludwig, ganz außer Atem, war endlich auf dem Kap gelandet. Der Wind hatte sein Haar zerzaust, Augen und Wangen gerötet. Vogelschwärme, die verstanden hatten, dass er in eiliger Mission unterwegs war, waren auseinandergestoben, um dem Reisenden freie Reise zu gewähren. Die Gebirge hatten seinem Frühlingsflug mit Schneeaugen nachgeblickt, sich zugeblinzelt, miteinander getuschelt, wie die Alten, wenn ein Junges, flügge geworden, plötzlich davonflattert, gerade so, als kennte es alle Ziele der Welt. Ludwig wischte sich den Staub aus den Augen, um besser sehen zu können, schlug aber beim Anblick der Felsenküste, dem steilen Absturz ins Meer erschreckt die Hände vors Gesicht, als wollte er seinen Augen nicht trauen und nicht glauben, wie wüst und gefährlich die Grenze von Erde, Meer und Himmel war.
Wogen zernagten den Felsen, zerbissen ihn zu Geröll, das sie dröhnend und krachend umherwälzten. Möwen schossen durch den Wind, den das Meer an der Küste hinauf blies, schrien heiser. Ein unsichtbarer Finger berührte Ludwigs Ohr, richtete es auf den Ozean hinaus. Etwas schien sich von dorther anzukündigen, etwas, das keinen Namen hatte, ein Sog, der langsam Ton wurde, leise, sehr leise, der zur Stimme wurde, die ihn rief: Ludwig, Ludwig, dreh dich um, sieh übers Land zum Gebirge hinauf und geh, geh dorthin, geh in den Wald von Sintra.
Ludwig blickte misstrauisch umher. Er konnte keinen Wald erkennen und glaubte auch nicht, dass es hier einen gab. Wälder, die so leise auf sich aufmerksam machten, gab es nur in den Märchen, die heute keiner mehr erzählte, aber ehe er es sich versah, war er an dem gedrungenen Leuchtturm vorbeigegangen, der mit Lichtarmen durch die Nacht rudern würde, und in dessen Schatten es nach modrigen Algen und Seetang roch, Erd- und Wassergeruch am Abbruch des Kontinents, aus dem die verheißenen Wälder vielleicht doch noch erwachsen würden, und betrat einen Pfad, der sich zwischen Steinen, Felsen und blühenden Aloen hindurch übers Kap schlängelte.
Verschwitzt und erschöpft entdeckte Ludwig endlich einen Wegweiser nach Sintra, nachdem er lange bergauf gewandert war. Sintra, stieß er hervor, Sintra, und blickte skeptisch zur Sonne hinauf, die schon alt und rot und rund überm Meer stand und einen bis aufs Wasser fallenden Wolkenbart hatte. Sintra. Merkwürdiges Wort. Wie war er darauf gekommen? Was bedeutete es? War es der Name eines Waldes oder eines Ortes, in den er nur gelangen würde, wenn er durch den Wald wanderte? Er schritt bang den Weg entlang, folgte seinem Schatten auf der Mauer eines Hofguts, die sich an der Straße entlang zog, und den die untergehende Sonne wie einen finsteren Begleiter darüber hin warf. Einmal strebte er aus seinen Füßen fort nach vorn, ein andermal, wenn die Straße eine Kurve gemacht hatte, schlich er hinter ihm her. Es war, als würde er, der leibhaftige Ludwig, wie eine kuriose Blüte aus einer Rosette schwarzer Blätter wachsen. Die Stimme flüsterte tonlos in seinen Ohren, ermunterte ihn, sich umzusehen, denn die hohen,von Efeu umrankten Bäume, wären die Pforte zum Zauberwald. Er hob den Kopf, atmete tief ein. Die Luft war würzig, verströmte ungewohnte Aromen, die belebten und zu anderer Wahrnehmung erweckten. Die Bäume leuchteten zu dieser Stunde wie von innen heraus, wuchsen riesig über sich hinaus, wie auch er plötzlich zu glühen und über sich hin-auszuwachsen schien, erfasst von etwas, das gerade aus tiefem Schlummer erwacht war, von etwas Unbedingtem, das ihn hierher gelockt und sich selbst überlassen hatte, ja, und worüber er gar nicht bemerkte, wie tief er bereits in den Wald eingedrungen war.
Die Blätter der Eukalyptusbäume rieselten über die mächtigen Arme der Pinien, aber es sah nur so aus, weil die Fächer der Farne im Wind ein Sinne verwirrendes Spiel trieben, blühende Orchideen oder waren es zierliche Vögel, die im Gesang zu Blüten geworden waren, zündeten Ampeln an, bevor sie davon flatterten, Kolibris, um mit schwirrenden Flügeln mal hier mal dort in der Luft zu verharren, dunkelrot weiße, vielfarbige Blätter treibend, die sich wieder in Federn verwandelten.
Das ist schön, nicht wahr?, sagte eine Stimme. Ludwig drehte sich erschreckt um. Er hatte ganz vergessen, dass es außer ihm auch noch andere Menschen gab. Aber da war niemand.
Hab' keine Angst, sagte die Stimme. Ich bin Giwdul. Ein alter Freund.
Ludwig blieb wie angewurzelt stehen. Da entdeckte er einen schwarzen Kater. Er hatte ein grünes und ein blaues Auge, sein Fell war so dunkel wie die Nacht, dunkler noch und seidiger in seinem Glanz als die Nächte über dem Kap der Träume. Ludwig hatte es die Sprache verschlagen. Er starrte das Tier an, dem eine Fuchsie ins Fell fiel, die sich sofort in einen bunten trillernden Vogel verwandelte, der dem Kater ins Ohr pickte, oder war es ein durch die Dämmerung rudernder Fisch mit kurios geschweiften Flossen?
Das verstehst Du noch nicht, sagte Giwdul und lächelte, als sich die Fischfuchsie in der Luft auflöste.
Der Kater warf Ludwig einen freundlichen Blick zu, trottete ein paar Schritte weiter, blieb schließlich stehen und wandte den Kopf um.
Kommst Du nicht? fragte er. Ludwig zwirbelte unschlüssig sein Bärtchen, traute sich nicht, dem Tier zu folgen. Giwdul setzte sich aufrecht hin, legte den Schwanz um die Pfoten und sah Ludwig an.
Schau mal, sagte er nach einer Weile und verlieh seinen Worten mit einer Geste der rechten Pfote Nachdruck, du weißt, dass dein alter Freund nichts Böses vorhat. Sonst wärst Du doch nicht hier. Und wenn Du ihm noch ein wenig folgst, wird er es Dir beweisen.
Die schräge Stimme des Katers beunruhigte Ludwig, aber er musste zugeben, dass die seltsamen Verwandlungen vor seinen Augen, oder geschahen sie aus ihm heraus, in ihn hinein, wirklich schön waren, wunderbar, beglückend in ihrer überraschenden Unvorhersehbarkeit. Ein Lächeln glitt über seine Lippen und er hörte auf, seinen Schnurrbart zu zwirbeln.
Er betrachtete Giwdul. Es musste doch einen alten, verlorenen Freund gegeben haben, ja, ganz Recht, und es war ihm plötzlich als würde er sich erinnern und hätte ihn wiedergefunden. Freude erfasste ihn und eine Erdkugel glitt hervor, bläulich im Schimmer des Weltalls, tauchte empor aus einer Dunkelheit, die glänzender war als die Nächte über dem Kap. Die Kugel drehte sich in der kosmischen Richtung des Himmels, die rund war, allseitig in jedem Augenblick. Giwdul war auf die Schulter seines Freundes gesprungen, richtete sich auf den Hinterbeinen auf, um die bläuliche Kugel in der leeren Augenhöhle wieder einzufangen.
Der Kater hatte Ludwig weiter in den Wald hineingelockt. Der Weg verlief kurvig bergauf, bis er in eine Lichtung mündete. Das Licht der verlöschenden Sonne färbte den Himmel ein. Giwdul sprang auf einen Felsen hinauf, deutete mit der Pfote auf ein kleines Haus, dessen weiße Mauern rötlich schimmerten.
Geh hinein, sagte er, nachdem es ganz dunkel geworden war. Die Tür ist geöffnet.
Ludwig zögerte. Er wäre so gerne dort hinein gegangen, wusste auch, dass er es tun würde, aber nicht gleich, weil er Angst hatte, Angst vor etwas Ungeheurem. Er blickte Giwdul an, der Pfoten und Fell leckte und nicht auf die stumme Frage des Freundes antwortete. Der Kater sprang schließlich vom Felsen herunter, reckte sich ausgiebig, ging langsam auf die geöffnete Tür des Hauses zu, geradeso, als nähmen die Dinge ihren Gang von nun an ganz alleine.
Ludwig folgte dem Tier, betrat das Haus. Er stand in einem leeren Raum. Die aufgefächerten Schatten der Farne fielen durch einen breiten Riss in der gegenüberliegenden Wand, woben im Nachtlicht ein filigranes Geflecht über den Dielenboden. Ein Tisch stand dort, eine eingeschaltete Lampe warf einen hellen Lichtkreis auf die Platte. Der Kater sprang auf einen Stuhl mitten im Raum. Sein Schatten flog dabei an der Mauer hinauf. Wind strich über Ludwigs Gesicht, kühler, duftiger Wind, Waldatem, der sich plötzlich in das knatternde Geräusch eines Propellerflugzeugs verwandelte, und er entdeckte, dass das Haus kein Dach und nichts als die Nacht über sich hatte.
Schritte näherten sich. Ludwig lauschte, woher sie wohl kommen würden. Steine knirschten unter den fremden Schuhen, Zweige knackten. Ludwig trat kalter Schweiß auf die Stirn, sein Herz klopfte, hatte furchtbare Angst. Da, ein Lichtstrahl! Der Fremde hatte eine Taschenlampe eingeschaltet, mit der er den Mauerriss von oben bis unten ausleuchtete. Dann setzte er einen Fuß hinein. Ludwig hielt den Atem an, schließlich erkannte er einen Stiefel, der bis hoch über die Knöchel verschnürt war. Ein Mann schob sich durch den Spalt, drückte ihn mit aller Kraft auseinander, bis die Mauern ächzend nachgaben und trat in den Raum. Der Fremde trug einen Fliegeranzug, graue Handschuhe, Flie-gerhaube und Fliegerbrille.
Guten Abend, sagte er. Du hier?
Ludwig nickte ihm zu, wusste nicht, was er sagen sollte, beruhigte sich aber über den angenehmen Manieren des Mannes. Der Fremde trat in den Raum, streifte sich den Staub von der Fliegermontur, zog die Handschuhe aus, legte sie auf den Tisch, nahm die Fliegerbrille ab, musterte Ludwig überrascht und reichte ihm die Hand.
Ich bin Wiglud, sagte er.
Das Gesicht des Fremden war weder jung noch alt, war auch nicht schön oder besonders männlich, war nur das Gesicht eines freundlichen, durch einen Mauerriss eingestiegenen Mannes, der sich umsah, als wäre er von einem anderen Stern gekommen.
Angenehm, sagte Ludwig, fühlte die Hand des Fremden in der seinen, die weich war wie das Fell des Katers, und hätte Giwdul nicht auf dem Stuhl gesessen, hätte er gedacht, dessen Pfote zu drücken.
Endlich, sagte der Fremde, trat nah heran. Ich habe dich überall gesucht.
Ludwig errötete bis hinter die Ohren, senkte den Blick, starrte verwirrt auf den Boden.
Aber du kennst mich doch gar nicht, antwortete er leise.
Doch. Gut sogar. Auch wenn wir uns eben erst begegnet sind.
Das verstehe ich nicht.
Du wirst es gleich verstehen, sagte Giwdul von seinem Stuhl herunter, und betrachtete seine Pfoten.
Der Fremde küsste Ludwig auf den Mund. Ludwig wich zurück, wischte sich erschreckt über die Lippen, wurde aber sogleich von wohliger Wärme durchströmt. War es das, was er gefürchtet hatte? War es wirklich dieses Gefühl von Lebendigkeit, von Geborgenheit in lebendiger Nähe?
Der fremde Mann öffnete seinen Fliegeranzug. Ludwig wunderte sich über die Behaarung, die sich wie ein verzweigender Baum auf seiner Brust ausbreitete. So etwas hatte er noch nie gesehen.
Du darfst mich anfassen, sagte er.
Ludwig betastete den Körper, zog aber rasch die Hand zurück. Dann warf er sich mit einem Seufzer in die Arme des Unbekannten. Eine grüne Woge erfasste ihn, trug ihn in unbekannte Höhen, die warm und sonnig waren. Giwdul sprang auf die Schulter seines Schützlings, richtete sich auf den Hinterbeinen auf, fing die Woge, die Ludwig empor getragen und sich in einen kostbaren Stein verwandelt hatte, mit der anderen Augenhöhle wieder ein. Kaum war der Stein eingedrungen und wieder zu jenem grünen Auge geworden, löste sich Giwdul in der Luft auf.
Ludwig und Wiglud trieben Wurzeln, die das Haus zersprengten. Ihre Körper vereinigten und verwandelten sich, wuchsen empor, kräftiger Stamm einer Föhre, die sich ausladend in der nächtlichen Offenheit verzweigte.
Ludwig stand vor dem Königspalast in Sintra. Kühl, hier unten auf dem Schlossplatz. Die Sonne bestrahlte nur den Himmel und die Gipfel der Berge. Der Morgen atmete Dunst aus den bewaldeten Höhen, die den Palast umgaben. Er trieb über die Fassaden der Sommerhäuser, die da und dort an den Hängen standen, wallte bergauf, verdampfte in der Sonne.
Ludwig reckte und streckte sich. Die kühle Luft vertrieb den Schlaf. Er fühlte sich stark, frei, fühlte sich wie ein ganzer Kerl. Die Erinnerung an die vergangene Nacht war mit dem Schlaf vergangen. Ein Hahn krähte, krähte wieder, bis andere Hähne erwachten und den morgendlichen Ruf in ein schrilles Weckkonzert verwandelten. Die Hennen rafften bereits die Federn, rannten kreischend herbei, um willig die Wünsche der Gockel zu erfüllen.
Ja, dachte Ludwig, ich werde der Sonne entgegenfliegen, drehte sich auf dem Absatz um, ging zu dem Motorflieger, der zwischen all den Autos geparkt war. Tau perlte von den Tragflächen, kullerte am Propeller entlang, tropfte auf den Boden. Ludwig tätschelte sein Flugzeug. Es war tadellos. Dann schob er es auf den Platz hinaus, klappte die Tragflächen herunter, setzte Haube und Brille auf, zog die Handschuhe an und wollte sich gerade hinter den Steuerknüppel schwingen, als er eine grüngläserne und eine blaugläserne Murmel auf dem Sitz entdeckte.
Er betrachtete sie verwundert, wusste nicht, wer sie dorthin gelegt haben könnte. Kinder. Klar, wer sonst. Kinder vergessen, womit sie gespielt haben. Ein erster Sonnenstrahl ließ die Kügelchen blitzen.
Dann steckte Ludwig die beiden Murmeln in seine Hosentasche, setzte sich auf den Pilotensitz, gurtete sich fest, kontrollierte die Instrumente, ließ den Motor an, der spotzte, pupste, paffte und viele hässliche Geräusche machte, so, wie die Bürgersleute beim Aufstehen, bis er endlich gleichmäßig drehte. Der Motorenlärm brach sich an den Häusern, dröhnte über den Schlossplatz, hallte zwischen den Bergen.
Die Fenster sämtlicher Schlafzimmer wurden aufgerissen, die Bürgersleute schüttelten die Fäuste und beschimpften den Ruhestörer. Ihre Gesichter waren so komisch anzusehen, dass Ludwig in ein Gelächter ausbrach.
Ihr könnt mich mal, rief er, winkte ihnen zu. Ihr könnt mich kreuzweise. Ihr hindert mich nicht daran, zu starten, abzuheben und zu fliegen! Ihr nicht!
Er kniff die Augen zusammen, um nicht geblendet zu werden, beschleunigte sein Flugzeug, brauste an den Bürgersleuten vorbei, hob ab, und flog in den sonnigen Morgenhimmel hinauf.
Ludwig drehte eine Kurve, hielt aufs Meer zu. Er dachte plötzlich an die Murmeln in seiner Hosentasche, während er über den Wald von Sintra flog, den Streifen der Küste vor Augen. Er würde dem Kap seiner Träume, das schon immer Wirklichkeit gewesen zu sein schien, Genüge tun müssen, dem Meer, dem Wind, dem oben und weithin Waltenden, bevor er der Sonne entgegen und wohin auch immer zurückfliegen durfte.
Der Schatten des Flugzeuges flog vor ihm her, kräuselte sich über Täler und Hügel, die sich zum Meer hinab zogen, flatterte plötzlich wie eine Flagge an einer riesigen, den Wald überragenden Kiefer. Möwen stiegen von den Felsen auf, schwärmten umher, hießen den metallenen Vogel willkommen.
Ludwig korrigierte die Lage seines Flugzeugs, um besser durch die Winde zu gleiten, die sich an der Brust des Kontinents stauten. Aber es waren freundliche Winde, warfen sich den mutigen Flieger zu, grüßten ihn mit böigen Händen, trieben noch mehr Möwen von ihren Nistplätzen auf, ließen den Vogelschwarm wie eine Wolke um den Leuchtturm am westlichsten Punkt des Erdteils kreisen. Ludwig begann auf der Spitze eines Luftfingers zu kreiseln, landete unsanft auf dem Kap.
Die Möwen setzten sich auf die Tragflächen, ließen sich auf seinem Kopf nieder, seinen Schultern, schwatzten auf ihn ein, bis sie ihn alle persönlich begrüßt und er sein Flugzeug verlassen hatte. Sie begleiteten ihn zur äußersten Spitze des Kaps, wo sie sich hinter ihm auf der niedrigen Mauer niederließen. Plötzlich schwiegen sie still. Auch die Winde hielten inne. Die Wogen glätteten sich, das Wasser funkelte in der Sonne. Kein Sirren war zu hören. Kein Laut. Nichts. Ludwig versank in Gedanken, blickte hinaus aufs Meer, zum Himmel auf.
Lebt wohl, sagte er, lebt wohl, griff in die Hosentasche, zog die grünblauen Murmeln hervor, hielt aber zögernd inne. Eine Möwe flatterte auf, entriss ihn seinen Gedanken. Dann schleuderte er die Kugeln hinaus in die Elemente, aus denen sie geformt waren, gab sie für einen anderen zurück, der sie eines Tages, heute noch, sofort, benötigen würde.

***