Glöckler

Ralph Roger Glöckler - Matthias Rummel

Ralph Roger Glöckler, Jahrgang 1950, lebt in Frankfurt am Main. Germanistik-, Romanistik- und Völkerkundestudium in Tübingen, wo er Mitherausgeber der Zeitschrift EXEMPLA war. Nach dem Studium, das er mit einer Magisterarbeit über die expressionistische Lyrik von Anton Schnack abschloss, lebte Glöckler viele Jahre in Lissabon, eine Stadt, die er im Werk von Fernando Pessoa, vor allem in den Gedichten seines Heteronyms Álvaro de Campos, als Sehnsuchtsort für sich entdeckte. Ein Zyklus aus Glöcklers Gedichtbuch DAS GESICHT ABLEGEN (2001) ist Fernando Pessoa gewidmet. In den 1990iger Jahren begann auch die Stadt New York eine Rolle zu spielen, deren Energie eine Art kreativen Gegenpols zur portugiesischen Hauptstadt bildet. Hier ist Glöckler u. a. den Lebensspuren der Komponisten Charles Ives (1874-1954), Henry Cowell (1897-1965) und Marsden Hartley (1877-1943) gefolgt. Die Freundschaft zwischen Ives und Cowell ist Thema eines Romans geworden, die prägenden Lebensjahre Marsden Hartley das einer Novelle.

Das Motiv der Reise, auch im übertragenen Sinn, ist von Anfang an in seinem Werk zu finden, sowohl in den Gedichten, als auch den literarischen Reise-Erzählungen. Die Suche nach dem Ich und seiner eigenen Sprache klingt in der Begegnung mit dem Fremden, Unbekannten, oft auch Beängstigenden an. So sind der frühe Roman REISE INS LICHT (1984), die Reisebücher KURS AUF DIE FREIHEIT. PORTUGAL NACH DER NELKENREVOLUTION (1980/1989/2021), CORVO. EINE AZOREN-UTOPIE (2005/16) VULKANISCHE REISE. EINE AZOREN-SAGA (1997/2008/16) auch als Werke des Unterwegsseins zu Menschenschicksalen zu lesen. Die Erzählung MADRE (2007) über die azoreanische Nonne Teresa da Anunciada, 1658 —1738, Gründerin des Kultes um die Büste des >Senhor Santo Cristo<, dritter Teil der AZOREN-TRILOGIE, sprengt als innerer Monolog der Sterbenden Glöcklers bisherige Formen.
Die Erzählung DIE KALTE STADT (1985/2020) sowie jene in DIE MÄNNLICHE UNREIFE DES TODES (2016) versuchen, seelische Abgründe und deren Auswirkung auf Beziehungen zu erforschen, stilistische Fingerübungen für weitere Werke.

Der Roman MR. IVES UND DIE VETTERN VIERTEN GRADES (2012) berichtet in vier verschiedenen, nie abgeschickten Briefen von der Freundschaft der ikonoklastischen amerikanischen Komponisten Charles Ives (1874-1954) und Henry Cowell (1897-1965) und geht der Frage nach, ob Ives seinen Förderer Cowell nach dessen Verhaftung wegen eines Sittendeliktes fallen ließ: nicht nur eine Analyse gesellschaftlicher Vorurteile, sondern auch der Versuch, Musik in Sprache zu übersetzen. Dieser Roman nimmt das Thema der Erzählung DIE KALTE STADT (1987) auf, nämlich des gesellschaftlichen Umgangs mit Homosexualität.

Der Roman TAMAR (2014), der auf dem 2. Buch Samuel, Kapitel 11-19, beruht, erzählt die Geschichte von König David und seinen Kindern als heutiges Familiendrama. Es sind Einblicke in seelische Gratwanderungen, die Glöckler zunehmend faszinieren, sowie die Herausforderung, Sprache komplex und vielstimmig zu gestalten, speist sich menschliches Verhalten doch aus vielen, oft vergessenen, wenig bewussten Quellen, die Wort werden wollen.

Der Roman RÜCKKEHR INS DORF (2019) ist das Tagebuch eines Mannes, der nicht mehr unterscheiden kann, ob er gewisse Morde wirklich begangen hat oder nicht, Wahn oder Wirklichkeit, und wurde von einem Verbrechen inspiriert, das sich im vergangenen Jahrhundert in Portugal ereignet hat.

Die Novelle LUZIFERS PATENKIND. EINE-MARSDEN-HARTLEY-NOVELLE (2022) versucht die prägenden Schaffensjahre des US-amerikanischen Malers Marsden Hartley in Berlin und anderen Orten nachzuvollziehen, um ein Charakterbild des Künstlers zu entwerfen.

Der Roman DER KÖNIG IN SEINEM KÄFIG (2023) variiert das Thema der Susanna im Bade aus dem apokryphen Buch Daniel und erzählt die Geschichte der Stieftochter eines Tyrannen, die mit Hilfe des geheimnisvollen Traumdeuters Daniel zu sich selbst findet. Der Text ist auch der Versuch, Tyrannenmentalität zu skizzieren und deren zerstörerische Auswirkungen.

Der szenische Text TOBIT - Sieben Bilder nach dem gleichnamigen apokryphen Buch (2013-15) setzt sich mit religiöser Wagenburgmentalität auseinander, und bürstet das apokryphe Buch „Tobit“ dabei gegen den Strich. Der Komponist Stephan Peiffer hat den Text für Solisten, Chor und Kammerorchester zu Oratorium oder Kirchenoper vertont. Das Werk wartet auf seine Uraufführung.

So ist das ursprüngliche Reisemotiv zwar erhalten geblieben, hat sich aber in etwas Inneres, in Seelenbegehungen verwandelt. Der Autor versucht dabei, Gesicht und Namen abzulegen, um in andere hineinzuschlüpfen.

Wenn das keine aufregenden Reisen sind?

Der Autor ist seit 2020 Mitglied im PEN–Zentrum Deutschland.

 

aus: für fernando pessoa

ich habe in mir

start- und landebahnen

es gibt kein nachtflugverbot

der anblick großer aeroplane

steckt bordkarten in meine westentasche

eine nach lissabon

um álvaro kennenzulernen

eine nach paumanok

um walt endlich zu sehen

tragflächen

euch gilt der letzte aufruf

die schneise meines herzens

 

Aus dem Gedichtband >DAS GESICHT ABLEGEN<

 

 

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