Glöckler

Rede zur Verleihung des „Heimatpreises 2018 für Kunst und Kultur“ in Kahl am Main. 08.12.2018.

Oft habe ich darüber nachgedacht, meine Damen und Herren, was „Heimat“ für jemanden wie mich bedeutet, der sich in mehreren Städten, Ländern, Kontinenten zu Hause fühlt, der Erfahrungen in seinen Büchern festzuhalten versucht, die an einem einzigen Ort nicht zu machen wären, und habe den Gedanken schulterzuckend sausen lassen. Heimat, was soll’s? Das ist viel zu kompliziert.

Doch dann geschah etwas Unerwartetes: Beim Spielen mit dem Smartphone stellte sich „Heimat“ in einer Email ein, und fragte in höflichen, wohlgesetzten Worten an, ob ich bereit sei, einen Preis anzunehmen, der anerkennen wolle, was ich als einer der ihren geleistet hätte. Ich staunte nicht schlecht, wunderte mich gar, und musste zugeben, dass ich nun gefordert war, die verworfene Frage endlich zu beantworten.

Plötzlich erinnerte ich mich daran, was eine Freundin vor Jahren zu mir gesagt hatte: dass ich mein „Haus“, wie sie es nannte, niemals verließe, ein geräumiges, weitläufiges, in dem ich mich von Kahl nach Tübingen, Lissabon, den Azoren, von Frankfurt über Iberien nach New York, weiter darüber hinaus und wieder zurück bewegen würde, hin und her, zwanghaft, als müsste ich meinen Lebensorten nicht nur Treue beweisen, sondern, mehr noch, mich ihrer Gewogenheit rückversichern, um vor mir selbst zu bestehen. „Heimat“ - ein großes Haus. Da hat die Freundin Recht. In seinen Räumen gibt es einen kleinen, intimen Bereich, den ich die Schaltstelle nennen möchte: Er misst eins-sechzig auf nicht mal einen Meter, mit Lampe, Notizbuch, Federhalter und Computer, richtig, mein Schreibtisch, an dem ich nicht nur Gedichte und Briefe, sondern meine Bücher geschrieben habe und hoffentlich weiterhin schreiben werde. Ich zog mich dorthin zurück, um darüber nachzudenken, ob „Heimat“ nur jener Ort ist, an dem wir zur Welt gekommen und aufgewachsen, wo wir zum ersten Mal unserer selbst bewusst geworden sind und gespürt haben, wer wir möglicherweise sein oder werden wollten. Was, wenn wir an andere Orte weitergezogen sind, uns intensiv mit fremden Menschen eingelassen, unser Leben mit ihnen geteilt, neue Arbeitswelten erschlossen, wir prägende Erfahrungen gemacht, uns also weiter entwickelt haben, reifer, freier, weltoffener geworden sind, ja, was dann, fragte ich weiter, und ob dies bedeuten würde, die erste „Heimat“ in Frage zu stellen, sie zu verleugnen, schlechtzumachen, weil wir nicht mehr die Gleichen sind?

Muss man sich für eine einzige „Heimat“ entscheiden, von ihr, mit anderen Worten, im Singular sprechen? Gibt es nur „die“ Heimat? Für viele Menschen, ist es ein Ort, eine Region, ein Land. Das ist in Ordnung. Für mich, jedoch, müsste es „Heimaten“ heißen, was nicht falsch ist, ich habe es im Wörterbuch nachgeschlagen, aber der Plural klingt, wie soll ich sagen, seltsam überzogen, so dass auch ich lieber von „die Heimat“ spreche. Für mich besteht sie jedoch aus mehreren, sich überlagernden Biotopen, aus denen man, so unterschiedlich sie sein mögen, wie ein Baum aus fruchtbarer Erde emporwachsen, sich seit- und himmelwärts ausbreiten kann. „Heimat“, Humus des Lebens. Bin ich nicht vielerorts zu dem geworden, was ich heute bin? War ich früher einer, später ein anderer, so bin ich heute aus beiden der Gleiche.

„Heimat“ ist für mich wie eine innere Landkarte, also etwas sehr Intimes, manchmal nicht Nachvollziehbares, wo alle Lebensorte eine eigene Aura entwickeln, an die ich mich gerne, manchmal sehnsuchtsvoll erinnere, weil sie dieses Haus, das ich bewohne, auf wunderbare Weise erleuchten. Wie war das? Ich bewege mich darin hin und her, vor und zurück, immer wieder, ja, fast zwanghaft, und ich frage mich, ob ich der „Heimat“ gehöre oder sie mir? Schwierig zu beantworten. Es ist wohl eine wechselseitige Beziehung, in der beide voneinander abhängen.

Das „Haus der Heimat“ ist kein leeres Gebäude, wird es doch von unseren Familien, Freunden, Nachbarn, Kollegen bewohnt, von vielen, die nicht nur Freude bereiten, sondern für Lärm, Unruhe, Unfrieden sorgen, und wieder anderen, an denen wir achtlos vorüber gehen. Was, aber, würden Dörfer, Städte, Länder und Kontinente, was würden wir ohne all jene sein, ob wir sie lieben oder nicht, in denen wir uns spiegeln, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen, die uns zu Gliedern der Gesellschaft machen und helfen, den Lebensort zu definieren, ihm ein Gesicht und menschliche Temperatur zu geben?

Kahl, denke ich und blicke über den Computer hinweg, das sind doch Ursel und Walter …, Lissabon: Teresa, João, Armando, … New York: Allie, Kevin, John … Was mich mit den Menschen vereint, die ich gefunden habe oder, das will ich offen lassen, sie mich, ist eine nicht immer übereinstimmende, aber möglicherweise ergänzende Art und Weise, das Leben zu erfahren, sich darüber auszutauschen, also ein gemeinsames, geistiges Gefilde, das es auch verdient, „Heimat“ genannt zu werden. Bei denen bin ich daheim, ja, wir bewohnen das gleiche Haus.

Ich hatte mich also an meinen Schreibtisch zurückgezogen, um über „Heimat“ nachzudenken und meine Ideen für diese Ihnen gewidmete Betrachtung niederzuschreiben. Ich werde nie völlig klären können, was sie bedeutet, will es auch nicht, ja, wahrscheinlich ist es auch gar nicht nötig. Ich schaltete Computer und Lampe aus, ließ mich in Gedanken noch ein wenig treiben und gab es schließlich auf, eine formelhafte Erklärung dafür zu finden.

Jetzt, vor Ihnen, fällt mir ein, wie diese Formel vorläufig lauten könnte:

„Heimat“ ist dort, wo wir uns, ernstgenommen und ohne es zu wollen, dem Genius loci anverwandeln.

Ja, dabei will ich es belassen.

Das ist der Grund, meine Damen und Herren, weshalb ich diesen „Heimatpreis 2018 für Kunst und Kultur“ gerne annehme. Es freut mich, wenn Kahl am Main, wo ich Kindheit und Jugend verbracht habe, anerkennt und auszeichnet, was einer der seinen gearbeitet und für die anderen beigetragen hat.

Sehr geehrter Herr Bürgermeister Seitz, sehr geehrter Herr Becker, 1. Vorsitzender des „Heimat- und Geschichtsvereins“, sehr geehrter Vorstand, ich danke Ihnen für diese Auszeichnung, und Ihnen allen fürs Zuhören.

Herzlichen Dank.

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(Geschrieben: 11. bis 14. Oktober 2018/ 3.12.2018)

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Copyright: Ralph Roger Glöckler